Roberto Benigni: Der Film «La vita è bella» war eine Zäsur (2024)

Im Lebenswerk des italienischen Filmemachers zeigt sich exemplarisch, wie allem Komischen immer auch das Tragische innewohnt. Nun wird Roberto Benigni siebzig Jahre alt.

Maurizio Ferraris

Drucken

Roberto Benigni: Der Film «La vita è bella» war eine Zäsur (1)

Jean-Jacques Rousseau staunte in Venedig darüber, dass die Gondolieri ganze Arien aus der Oper «La Gerusalemme liberata» sangen. Ich stelle mir vor, dass sein Erstaunen noch sehr viel grösser gewesen wäre, hätte er gesehen, dass ein beliebter italienischer Komiker zur besten Sendezeit vor einem riesigen Fernsehpublikum Dante rezitieren würde. Natürlich, Roberto Benigni ist wie Dante Toskaner. Und trotzdem. Auch nannte Dante sein Meisterwerk «Comedia» und nicht etwa Tragödie, das Adjektiv «Divina» wurde erst von der Nachwelt hinzugefügt. Denn es ist in der Tat eine Komödie im eigentlichen Wortsinn, eine Mischung aus Traurigkeit und Lachen, Hoffnung und Enttäuschung, aus der eines der bedeutendsten Werke der Weltliteratur hervorgegangen ist.

Irgendjemanden neben Dante zu stellen, ist ein schmutziges, ein anrüchiges Spiel. Aber ich möchte trotzdem darauf hinweisen, dass sich Roberto Benigni während seiner gesamten Karriere als Komiker und, soweit wir es überhaupt wissen können, auch während seines ganzen Lebens diesen tragikomischen Gestus zu eigen gemacht hat. Und genau in dieser Hinsicht berührt sich sein Schaffen mit einem wichtigen Teil jener italienischen Literatur, die das Unreine, Gemischtsprachliche kultiviert, wie es Dante getan hatte und Boccaccio, wie es weitergeführt wurde von Gadda oder etwa Pasolini (dieser leider völlig humorlos). Roberto Benigni stünde damit in einer Tradition, die das genaue Gegenteil darstellt von jener puristischen, lyrischen, absoluten Linie, an deren Ursprung Petrarca steht.

Heute ist Benigni siebzig Jahre alt, und dass er längst bei Dante angelangt ist, scheint ganz folgerichtig zu sein. Es hat freilich nicht an Kritikern gefehlt, die ihm Selbstinszenierung vorwarfen, die in seinen Rezitationen nur den Versuch sehen wollten, sich einen Platz in der Hochkultur zu verschaffen. Und es gab sogar Stimmen, die von einer Erschöpfung der wahren komischen Ader sprachen. Aber welcher Komiker hat im Laufe der Jahre nicht an Schwung verloren und das Bedürfnis verspürt, sich in anderen Formen zu erneuern?

Ganz abgesehen davon sollten jene, die den inzwischen alt gewordenen einstigen Rebellen für passabel integriert halten, nicht vergessen, dass auch der legendäre neapolitanische Komiker Totò seinen Grössenwahn kannte. Während also Benigni jahrelang ein enger Freund von Umberto Eco war, bezeichnete sich Totò ohne jede Ironie als direkter Nachfahre der Kaiser von Byzanz.

Wo ist die Wahrheit?

Der Wendepunkt zwischen dem ersten Benigni, dem Komiker, der den toskanischen Bauern spielte, der er in Wirklichkeit war, und dem zweiten Benigni lässt sich auf das Jahr 1997 datieren. Der Film «La vita è bella» teilte Benignis Karriere in zwei Hälften, vergleichbar mit Charlie Chaplins «The Great Dictator». Benigni war fünfundvierzig, Chaplin damals einundfünfzig. Ab diesem Punkt stand ihre Beziehung zum Kino nicht mehr im Zeichen der reinen Komödie.

Roberto Benigni: Der Film «La vita è bella» war eine Zäsur (2)

Wie man weiss, wurde Roberto Benigni im Zusammenhang mit seinem Film des Revisionismus bezichtigt, weil er angeblich zeigte, dass man selbst in Auschwitz leben konnte. So als wäre Primo Levis «Ist das ein Mensch?» nichts als eine Übertreibung. Primo Levi starb, bevor der Film in die Kinos kam. Wir werden darum nie erfahren, was er davon gehalten hätte. Ich vermute jedoch, dass er einige Bedenken gehegt hätte.

Viele einflussreiche Vertreter der jüdischen Gemeinschaft haben im Übrigen festgehalten, dass es sich nicht etwa um einen schlechten Film, sondern um eine Fabel handle. Das sei ganz offenkundig, da nichts von dem, was in dem Film geschieht, in Auschwitz möglich gewesen wäre (Kinder, die Verstecken spielen durften, wo sie doch tatsächlich vergast oder schrecklichen Experimenten unterzogen wurden; Häftlinge, die gut genährt waren, wo sie doch alle Todeskandidaten waren). Genauso wie es eine Schummelei war oder geradezu «eine Schurkerei», wie der bekannte Regisseur Mario Monicelli schrieb, das gepanzerte Militärfahrzeug, das Auschwitz befreite, mit der amerikanischen Flagge anstelle jener der Roten Armee zu schmücken.

Warum sollte man so etwas tun? Denn die historische Wahrheit sagt etwas anderes, doch die amerikanische Flagge mag für den Oscar und den weltweiten Erfolg hilfreich gewesen sein. Ausserdem ist es schwierig, die Vorstellung einer volkstümlichen Verschlagenheit abzulegen, da sie doch, wenn man so will, den Kern, die Quintessenz von Benignis Schaffen darstellt. Was im Übrigen auch einen Film wie «Non ci resta che piangere» (1984) gross gemacht hat, den er zusammen mit Massimo Troisi gedreht hatte. Vielleicht hatte Troisi in mancher Hinsicht sogar ein leichteres Schicksal als Benigni.

Denn Massimo Troisi starb im Alter von einundvierzig Jahren, kurz vor jenem Wendepunkt, der sich im Leben eines jeden Komikers einstellt. Vielleicht mit Ausnahme von Peter Sellers, der jedoch einen entscheidenden Vorzug gegenüber allen anderen Komikern hatte, nämlich die Fähigkeit, dramatische Rollen gleichermassen gut zu verkörpern. Denn mit dem Drama kann man alt werden und kurz vor dem Lebensende absolute Höhen erreichen, wie in Sellers’ aussergewöhnlichen Interpretation von Chance, dem Gärtner in «Being There». Der Komiker hat es darum sehr viel schwieriger, und zwar nicht so sehr, weil der Lebenswille schwächer wird, sondern weil (das ist zumindest meine Hypothese) die enorme Traurigkeit, die jedem Komiker innewohnt, verblasst. Man versöhnt sich mit dem Leben, das Absurde erscheint weniger absurd.

Spätes Glück

Das Älterwerden ist für jeden schwierig, für Komiker jedoch erst recht. Der Faden der Tragödie, der in jeder Komödie mitläuft, macht sich bemerkbar und verknotet sich. Man kann ihn verwandeln, indem man den Bodensatz des Glücks untersucht, um den Titel einer bekannten Erzählung von F.Scott Fitzgerald zu paraphrasieren, sofern man sein Glück nicht gleich am Grund der Flasche sucht. Bei anderen Gelegenheiten ist es indessen unerwartet der Faden der Komödie, der im letzten Moment zum Vorschein kommt, etwa in Nietzsches Wahnsinn oder bei Louis Aragon, der im Alter eine überraschende Metamorphose erlebte. Sie zauberte aus dem Nationaldichter und aschgrauen Funktionär der Kommunistischen Partei Frankreichs einen Clown hervor.

Deshalb stimme ich nicht mit denen überein, die den zweiten Benigni als eine Form der Dekadenz ansehen. Er hat einfach gelernt zu leben, und heute, mit siebzig Jahren, der von Dante gesetzten Lebensgrenze (denn die Lebensmitte, «nel mezzo del cammin di nostra vita», lag für ihn bei fünfunddreissig Jahren), muss er nicht einmal mehr sterben lernen, denn er hat noch so viel Leben vor sich, so viele Anerkennungen, so viele Erfolge, wenn sie auch von anderer Art sein werden als jene, die seine frühen Jahre geprägt haben.

Auch darum sind wir Roberto Benigni besonderen Dank schuldig, weil er uns so sehr zum Lachen gebracht und zugleich die Licht- und Schattenseiten in seinem Leben offenbart hat, wie es sie im Leben eines jeden Menschen gibt. Dankbar sind wir zuletzt für diese seltene Mischung aus einem hemdsärmligen Jungen (der zum Beispiel im Juni 1983 den sehr ernsten Generalsekretär der Kommunistischen Partei Italiens, Enrico Berlinguer, auf seinen Armen trug) und einem Toskaner, der es im reifen Alter mit der Suggestivkraft eines Mediums versteht, seinen grossen Landsmann Dante Alighieri in dessen eigener Sprache zum Leben zu erwecken.

Roberto Benigni: Der Film «La vita è bella» war eine Zäsur (4)

Maurizio Ferraris ist Professor für Philosophie an der Universität Turin. – Übersetzung aus dem Italienischen von rbl.

Passend zum Artikel

Putin wird mit Sauron verglichen, Giorgia Meloni möchte ein Hobbit sein. – Ist «The Lord of the Rings» rechts? Oder nicht doch eher links? Tolkiens Fantasy ist zutiefst ideologisch, weil sie die Welt in Gut und Böse unterteilt. Was falsch daran ist, lässt sich bei Carl Schmitt nachlesen.

Wolfgang M. Schmitt

Interview Oleg Senzow: «Wirklicher Krieg ist ganz anders, als Sie sich das vorstellen. Ich habe noch nie mit dem Gewehr auf den Feind geschossen» Der ukrainische Regisseur sass im russischen Straflager. Nun steht er als Soldat in der Ukraine an der Front, während sein neuer Gangsterfilm gleichzeitig das eigene Land von der brutalsten Seite zeigt. Im Gespräch erklärt er, wie das zusammengeht.

Andreas Scheiner

Interview Péter Nádas: «Merkel hat ein totales Chaos hinterlassen. Mit Putins billigem Gas. Mit der wirtschaftlichen Anbindung Deutschlands an China. Mit ihrer Fehleinschätzung Viktor Orbáns» Die ehemalige deutsche Kanzlerin hat mit ihrer Russlandpolitik ein Glücksspiel betrieben, obwohl sie wissen musste, wie die Sache ausgehen wird, sagt der ungarische Schriftsteller im Interview. Dem Westen insgesamt wirft Péter Nádas im Umgang mit Putin Arglosigkeit vor.

Paul Jandl

Neueste Artikel

Neueste Artikel Alle neueste Artikel
Am Trachtenfest ist die Schweiz zu Gast in Zürich, und sogar Japan – aber die Zürcher Bevölkerung macht sich rar 100000 Besucher strömten übers Wochenende nach Zürich. Für die Zürcher Bevölkerung wäre es eine wunderbare Gelegenheit gewesen, um freundeidgenössisch ins Gespräch zu kommen.

Dominik Feldges

4 min

Neue Fraktion: Viktor Orban baut eine «Trägerrakete» für Europas Rechtsparteien Der ungarische Regierungschef findet in der FPÖ aus Österreich und der ANO aus Tschechien neue Verbündete im Europaparlament. Für sein Ziel, eine schlagkräftige rechte Fraktion zu gründen, braucht er aber dringend noch ein politisches Schwergewicht. Nur wer?

Meret Baumann, Wien

4 min

«Keine Nazis in der Stadt, macht sie alle platt»: Die AfD veranstaltet ihren Parteitag unter Protest und übt sich in Geschlossenheit Im nordrhein-westfälischen Essen stimmt sich die Alternative für Deutschland auf die Landtagswahlen im Osten ein. Die alte Streitlust wird durch Vorabsprachen weitgehend gezügelt. Nur bei Satzungsfragen brechen Konflikte auf.

Aktualisiert

Alexander Kissler, Essen

5 min

Kurzmeldungen EM 2024: Italiens Spalletti darf trotz EM-Aus bleiben Die aktuellsten Meldungen rund um die Fussball-Europameisterschaft 2024 im Überblick.

Aktualisiert

NZZ-Sportredaktion

Ist der Videoassistent insgeheim Deutscher? Zwei Entscheidungen beim Achtelfinaleinzug bringen den Gegner Dänemark in Rage Beim 2:0 gegen Dänemark tun sich die Deutschen lange schwer. Für den Ärger seines dänischen Kollegen über die Schiedsrichter-Entscheidungen hat sogar der deutsche Trainer Nagelsmann Verständnis.

Aktualisiert

Stefan Osterhaus, Dortmund

4 min

Unwetter im Maggiatal: Tessiner Berge sind seit Jahrhunderten eine Gefahrenzone Gewitter haben am Samstagabend das Tessin hart getroffen. Besonders das Maggiatal. Es ist aber nicht das erste schwerwiegende Naturereignis in der Region.

Peter Jankovsky, Locarno

4 min

Roberto Benigni: Der Film «La vita è bella» war eine Zäsur (2024)

References

Top Articles
Latest Posts
Article information

Author: Msgr. Refugio Daniel

Last Updated:

Views: 6395

Rating: 4.3 / 5 (54 voted)

Reviews: 85% of readers found this page helpful

Author information

Name: Msgr. Refugio Daniel

Birthday: 1999-09-15

Address: 8416 Beatty Center, Derekfort, VA 72092-0500

Phone: +6838967160603

Job: Mining Executive

Hobby: Woodworking, Knitting, Fishing, Coffee roasting, Kayaking, Horseback riding, Kite flying

Introduction: My name is Msgr. Refugio Daniel, I am a fine, precious, encouraging, calm, glamorous, vivacious, friendly person who loves writing and wants to share my knowledge and understanding with you.